Rechtsvergleich: Effektiver Rechtsschutz in der Revisionsinstanz

BGH - Flage der EU

Eine besondere Anwaltschaft bei einem obersten Gerichtshof (nachfolgend: Kassationsanwaltschaft) existiert nicht nur in Deutschland. Auch andere moderne Rechtsordnungen kennen sie; die Niederlande haben erst im Jahr 2012 eine Kassationsanwaltschaft eingeführt. Eine Kassationsanwaltschaft ist daher kein „alter Zopf“. Sie adressiert das Problem, dass die – zumal in Zivilsachen – knappe Ressource „höchstrichterliche Rechtsprechung“ eines gewissen Verteilungsfilters bedarf und vor dem obersten Gerichtshof jede Partei, unabhängig von ihrem fachlichen oder wirtschaftlichen Hintergrund, von einem besonders qualifizierten Anwalt vertreten sein soll (Waffengleichheit und Verbraucherschutz). Der Europäische Gerichtshof hat denn auch in seinem Urteil vom 25.02.1988 (NJW 1988, 887, 889) bestätigt, dass die Einrichtung einer Kassationsanwaltschaft auch mit dem freien Dienstleistungsverkehr innerhalb der Europäischen Union harmoniert.

Die nachfolgende Aufstellung gibt einen – nicht erschöpfenden – Überblick über die Situation in einzelnen europäischen Ländern:

Frankreich und Belgien

In Frankreich hat der auf 60 Kanzleien beschränkte, heute ca. 120 Mitglieder umfassende Kreis der Kassationsanwälte (avocats au Conseil d‘ État et à la Cour de Cassation) eine herausragende Stellung im Justizsystem. Von Strafsachen und wenigen anderen Ausnahmen abgesehen, obliegt nur diesen Kassationsanwälten die Vertretung vor allen obersten Gerichtshöfen Frankreichs, und zwar nicht nur auf dem Gebiet des Zivil- und Handelsrechts, sondern auch im Arbeits- und Sozialrecht und auf den weiten Gebieten des dem Conseil d‘ État vorbehaltenen Verwaltungsrechts. Die französischen Kassationsanwälte sind in einer eigenen Anwaltskammer organisiert.

Auch in Belgien gilt im Grundsatz das französische System. Abweichungen bestehen insoweit, als in Steuersachen jeder Rechtsanwalt beim belgischen Kassationshof auftreten kann, während das gesamte Zivil- und Handelsrecht sowie das Sozial- und Disziplinarrecht den beim Kassationshof zugelassenen Rechtsanwälten vorbehalten ist. Die derzeit ca. 20 Kassationsanwälte sind ebenfalls in einer eigenen Anwaltskammer organisiert (vgl. Gross, Die Europäische Vereinigung der Anwaltschaften bei den Obersten Gerichtshöfen, FS Kirchberg, 2017, S. 433, 434 f.).

Italien und Griechenland

Italien und Griechenland haben sich das französische Modell zum Vorbild genommen, dieses aber in der Praxis verwässern lassen. Für Italien galt bisher, dass jeder Rechtsanwalt nach zwölf Jahren Tätigkeit automatisch und sogar nach fünf Jahren und einer bei seiner örtlichen Anwaltskammer abgelegten Eignungsprüfung auf die Liste der Kassationsanwälte gesetzt wird. Das hat zu einer Zahl von rund 60.000 Kassationsanwälten und einer vielbeklagten „Überflutung“ des Kassationshofs mit ungeeigneten Fällen geführt (vgl. Gross, aaO. S. 435 f.). Italien ist deshalb im Begriff, wieder eine „echte“ Kassationsanwaltschaft einzurichten. Im Jahr 2018 sind die Anforderungen schon dahin verschärft worden, dass ein Anwalt nach fünfjähriger Mindesttätigkeit eine spezifische Prüfung bestanden oder mit Erfolg die „Hohe Anwaltsschule“ absolviert haben muss, die von der nationalen Anwaltskammer betrieben und reglementiert wird.

In Griechenland wird man nach fünf Jahren Tätigkeit als Rechtsanwalt beim Landgericht und nach weiteren vier Jahren automatisch als Rechtsanwalt beim obersten Gerichtshof (Areopag) zugelassen. Die einzige Einschränkung besteht darin, dass die Zahl der Kassationsanwälte jährlich auf die Hälfte der insgesamt zugelassenen Rechtsanwälte beschränkt wird. Die „Überflutung“ des Kassationshofs mit ungeeigneten Fällen ist ähnlich hoch wie in Italien. Die überlange Dauer griechischer Gerichtsverfahren war Gegenstand zahlreicher Verfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Niederlande

In den Niederlanden ist die Zulassung zur Kassationsanwaltschaft durch das Gesetz vom 15.03.2012 neu gestaltet worden. Nunmehr ist eine besondere Zulassung als Kassationsanwalt Voraussetzung für die Vertretung vor dem Hoge Raad in allen Zivil- und Handelssachen. Die Zulassung erfolgt nach einem Bewerbungs- und Auswahlverfahren mit Ablegung einer besonderen Eignungsprüfung, die in Dreijahreszeiträumen zu wiederholen ist (vgl. Gross, aaO. S. 438 f.). Derzeit sind bei ca. 500 jährlich vom Hoge Raad entschiedenen Fällen ca. 90 niederländische Rechtsanwälte als Kassationsanwälte zugelassen. Aus dem Kreis der Kassationsanwälte wird zum Teil beklagt, dass diese Relation die kassationsrechtliche Spezialisierung beeinträchtigt.

Vereinigtes Königreich

Im Vereinigten Königreich ist die Prozessvertretung vor den Obergerichten, d.h. vor dem High Court of Justice, dem Court of Appeal und anderen Gerichten oberhalb der Landgerichtsebene (county courts, magistrates‘ courts, tribunals) nach wie vor Sache der Barrister. Die durch den Courts and Legal Services Act 1990 für Solicitors geschaffene Möglichkeit, durch besondere Qualifikation als Solicitor Advocate das Recht zum Auftreten vor den Obergerichten zu erlangen, hat kaum praktische Bedeutung erlangt. Die traditionsreiche, zugleich unverändert als zeitgemäß angesehene Bar of England and Wales verweist nicht ohne Stolz darauf, dass sie mit Thomas Morus (1478 – 1535) sogar einen Heiligen hervorgebracht hat (vgl. Hirst in Fortitudo Temperantia, 2000, S. 183 f.).

Europäische Vereinigung der Anwaltschaften bei den Obersten Gerichtshöfen

Die 1991 gegründete Association Européenne des Barreaux auprès des Cours Suprêmes umfasst derzeit die Mitglieder der Kassationsanwaltschaften Frankreichs, Belgiens, Deutschlands und der Niederlande. Der regelmäßige Erfahrungsaustausch erleichtert den Weg in eine gemeinsame Zukunft.